Leben

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Bernhard Riemann’s Lebenslauf.

Richard Dedekind

[Aus Bernhard Riemann’s gesammelte mathematische Werke und wissenschaftlicher Nachlass.Zweite Au?age,bearbeitet von Heinrich Weber.B.G.Teubner,Leipzig,

1892,S.541–558.]

Transcribed by D.R.Wilkins

Preliminary Version:December1998

Corrected:April2000

Bernhard Riemann’s Lebenslauf.

Richard Dedekind

[Aus Bernhard Riemann’s gesammelte mathematische Werke und wissenschaftlicher Nachlass.Zweite Au?age,bearbeitet von Heinrich Weber.B.G.Teubner,Leipzig,1892,S.541–558.]

Die nachfolgende Darstellung von Riemann’s Lebenslauf bezweckt kei-neswegs,die Bedeutung seiner wissenschaftlicher Leistungen und deren Ver-h¨a ltniss zu dem fr¨u heren und gegenw¨a rtigen Zustande der Mathematik in’s Licht zu stellen,sie ist vielmehr nur f¨u r solche Leser bestimmt,welche eini-ge Nachrichten¨u ber den Bildungsgang,den Charakter und die¨a usserlichen Schicksale des grossen Mathematikers zu erhalten w¨u nschen dessen Werke jetzt zum ersten Male vollst¨a ngig gesammelt erscheinen.

Georg Friedrich Bernhard Riemann ist am17.September1826in Brese-lenz,einem Dorfe im K¨o nigreich Hannover bei Dannenberg nahe der Elbe, geboren.Sein Vater Friedrich Bernhard Riemann,geboren in Boitzenburg an der Elbe in Mecklenburg,der als Lieutenant unter Wallmoden an den Befreiungskriegen Theil genommen,war dort Prediger und mit Charlotte, der Tochter des Hofrath Ebell aus Hannover verheirathet;er siedelte sp¨a ter mit seiner Familie nach der etwa drei Stunden entfernten Pfarre Quickborn ¨u ber.Bernhard war das zweite von sechs Kindern.Schon fr¨u h wurde seine Lernbegierde durch den Vater geweckt,der ihn bis zum Abgange auf das Gymnasium fast allein unterrichtete.Als Knabe von f¨u nf Jahren interessirte er sich sehr f¨u r Geschichte,f¨u r Z¨u ge aus dem Alterthum,und ganz beson-ders f¨u r das ungl¨u ckliche Schicksal Polens,welches sein Vater ihm immer von Neuem erz¨a hlen musste.Sehr bald aber trat dies in den Hintergrund,und sein entschiedenes Talent f¨u r das Rechnen brach sich Bahn;er kannte kein gr¨o sseres Vergn¨u gen,als selbst schwierige Exempel zu er?nden und dann sei-nen Geschwistern aufgeben.Sp¨a ter,vom zehnten Jahre Bernhard’s an,liess sich der Vater bei dem Unterrichte der Kinder von dem Lehrer Schulz un-terst¨u tzen;dieser gab guten Unterricht im Rechnen und in der Geometrie, musste sich jedoch bald sehr anstrengen,seines Sch¨u lers rascher,oft besserer L¨o sung einer Aufgabe zu folgen.

Im Alter von dreizehn und einem halben Jahr wurde Bernhard von dem

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Vater con?rmirt und verliess darauf das elterliche Haus,in welchem ein ern-ster,frommer Sinn und h¨a uslich angeregtes Leben herrschte.Die Eltern sahen ihre Hauptaufgabe in der Erziehung ihrer Kinder;die innigste Liebe verband Riemann mit seiner Familie und hat sich durch sein ganzes ferneres Leben erhalten;sie spricht sich in seinen Briefen aus,die er an die entfern-ten Lieben richtet,wo er an Allem,was das Elternhaus betri?t,auch an die kleinsten Vorg¨a ngen das lebhafteste Interesse zeigt,und auch sie treulich alle seine Freuden und Leiden theilen l¨a sst.

Zu Ostern1840kam Riemann nach Hannover,wo seine Grossmutter leb-te,und wo er zwei Jahre—bis zum Tode derselben—die Tertia des Lyceums besuchte.Anfangs hatte er,wie es nach seiner bisherigen Erziehung zu erwar-ten war,mancherlei Schwierigkeiten zu¨u berwinden,doch werden bald seine Fortschritte in den einzelnen Unterrichtsgegenst¨a nden gelobt,und immer ist er ein?eissiger und folgsamer Sch¨u https://www.360docs.net/doc/0516669997.html,ntlich aus dieser Zeit sind zahl-reiche Briefe Riemann’s an die geliebten Eltern und Geschwister erhalten,in welchen er,oft mit gl¨u cklichem Humor,von den Schulereignissen berichtet. Vorwegend ist aber die Sehnsucht nach dem Elternhause;wenn die Ferien herannahen,so bittet er inst¨a ndig um die Erlaubniss,dieselben in Quick-born zubringen zu d¨u rfen,und lange vorher sinnt er auf Mittel,die Reise mit m¨o glichst wenigen Kosten bewerkstelligen zu k¨o nnen;zu den Geburtstagen der Eltern und Geschwister macht er kleine Eink¨a ufe und ist eifrig darauf bedacht,sie damit wirklich zu¨u berraschen.Er lebt in Gedanken noch ganz in dem h¨a uslichen Kreise.Bisweilen klingt aber auch eine wehm¨u thige Klage durch,wie schwer es ihm werde,mit fremden Menschen zu verkehren,und die Sch¨u chternheit,welche,eine nat¨u rliche Folge seines fr¨u heren abgeschlos-senen Lebens,ihn zu seinem Kummer auch den Lehrern bisweilen in falschen Lichte ersecheinen l¨a sst,hat ihn auch sp¨a ter nie g¨a nzlich verlassen und oft angetrieben,sich der Einsamkeit und seiner Gedankenwelt zu¨u berlassen,in welcher er die gr¨o sste K¨u hnheit und Vorurtheilslosigkeit entfaltet hat.

Nach dem Tode der Grossmutter wurde Riemann,wie es scheint auf seinen eignen Wunsch,Ostern1842von dem Vater auf das Johanneum zu L¨u neburg gebracht,wo er zwei Jahre in Secunda und zwei Jahre in Prima bis zu seinem Abgange nach der Universit¨a t blieb.Gleich in die erste Zeit seines dortigen Aufenthaltes?el der grosse Brand von Hamburg,der tiefen Eindruck auf ihn machte,und¨u ber den er ausf¨u hrlich an seine Eltern berichtete.Die gr¨o s-sere N¨a he bei seiner Heimath und die M¨o glichkeit,die Ferien in Quickborn in seiner Familie zu verleben,trug dazu bei,die fernere Schulzeit zu einer gl¨u cklichen f¨u r ihn zu machen.Freilich war die Hin-und Herreise,die zum gr¨o ssten Theil zu Fuss gemacht wurde,mit Anstrengungen verbunden,denen sein K¨o rper nicht immer gewachsen war;schon in dieser Zeit spricht sich in den sch¨o nen Briefen seiner Mutter,die er leider bald verlieren sollte,¨a ngstli-

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che Sorge um seine Gesundheit aus,und oft wiederholen sich ihre herzlichen Ermahnungen,zu grosse k¨o rperliche Anstrengungen zu vermeiden.Er wohn-te sp¨a ter bei dem Gymnasiallehrer Se?er,der sich lebhaft f¨u r ihn interessirte, und an dem er,wie aus seinen Briefen hervorgeht,einen v¨a terlichen Freund und Besch¨u tzer gefunden hat.Er bekam gute Zeugnisse auch in anderen F¨a-chern,in Mathematik aber immer gl¨a nzende,beim Abgange die Eins.Seine grosse Begabung f¨u r diese Wissenschaft wurde von dem tre?ichen Director Schmalfuss erkannt;dieser lieh ihm mathematische Werke zum Privatstu-dium und wurde oft¨u berrascht und in Erstaunen gesetzt,wenn Riemann dieselben schon nach wenigen Tagen zur¨u ckbrachte und dann in der Unter-haltung zeigte,dass er sie durchgearbeitet und vollst¨a ndig aufgefasst hatte. Diese neben seinen Schularbeiten betriebenen Studien m¨u ssen ihn weit¨u ber die Grenzen des Gymnasial-Unterrichtes hinaus in das Gebiet der h¨o heren Mathematik gef¨u hrt haben;die Bekanntschaft mit der h¨o heren Analysis hat er,soviel bekannt ist,durch das Studium der Euler’schen Werke erworben; auch Legendre’s Th′e orie des Nombres soll er in dieser Zeit gelesen haben.

Im Alter von neunzehn und einem halben Jahr bezog Riemann Ostern 1846die Universit¨a t G¨o ttingen.Der seinem geistlichen Berufe von Herzen ergebene Vater hegte den nat¨u rlichen Wunsch,er m¨o ge sich der Theologie widmen,und wirklich liess Riemann sich am25.April als Studiosus der Phi-lologie und Theologie immatriculiren;zu diesem mit seiner deutlich hervor-getretenen Neigung und Begabung f¨u r die Mathematik nicht im Einklange stehenden Entschlusse wird vor Allem die R¨u cksicht auf die Mittellosigkeit der kinderreichen Familie und die Ho?nung beigetragen haben,fr¨u her eine Anstellung zu?nden und dadurch seinem Vater eine Erleichterung zu gew¨a h-ren.Neben den philologischen und theologischen Vorlesungen h¨o rte er aber auch mathematische,und zwar gleich im Sommersemester¨u ber die nume-rische Au?¨o sung der Gleichungen bei Stern,und¨u ber Erdmagnetismus bei Goldschmidt,sodann im Wintersemester1846–1847¨u ber die Methode der kleinsten Quadrate bei Gauss,und¨u ber bestimmte Integrale bei Stern.Er sah bei dieser fortgesetzten Besch¨a ftigung mit der Mathematik bald ein,dass die Neigung zu derselben zu m¨a chtig in ihm war,und erwirkte von seinem Vater die Erlaubniss,sich ganz seinem Lieblingsstudium widmen zu d¨u rfen.

Obgleich nun Gauss seit fast einem halben Jahrhundert unbestritten den Rang des gr¨o ssten lebenden Mathematikers einnahm,so beschr¨a nkte sich sei-ne zwar sehr anregende Lehrth¨a tigkeit doch nur auf ein kleines Feld,welches mehr der angewandten Mathematik angeh¨o rte,und f¨u r Riemann war bei dem vorgeschrittenen Standpunkte seines Wissens eine wesentliche Bereicherung desselben und eine Befruchtung mit neuen Ideen damals in G¨o ttingen nicht mehr zu erwarten.Er bezog daher Ostern1847die Universit¨a t Berlin,wo Jacobi,Lejeune Dirichlet und Steiner durch den Glanz ihrer Entdeckungen,

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welche sie zum Gegenstande ihrer Vorlesungen machten,zahlreiche Sch ¨u ler um sich versammelten.Er blieb dort zwei Jahre,bis Ostern 1849,und h ¨o rte unter Anderem bei Dirichlet Zahlentheorie,Theorie der bestimmten Integrale und der partiellen Di?erentialgleichungen,bei Jacobi analytische Mechanik und h ¨o here Algebra.Leider sind nur wenige Briefe aus dieser Zeit erhalten;in einem derselben (vom 29.Nov.1847)spricht er seine grosse Freude dar-¨u ber aus,dass Jacobi sich gegen seine anf ¨

a ngliche Absicht noch entschlossen habe,Mechanik vorzutragen.In einen n ¨a heren Verkehr mit ihm trat Eisen-stein,bei dem er in dem ersten Jahre Theorie der elliptischen Functionen h ¨o rte.Riemann hat sp ¨a ter erz ¨a hlt,dass sie auch ¨u ber die Einf ¨u hrung der complexen Gr ¨o ssen in die Theorie der Functionen mit einander verhandelt haben,aber g ¨a nzlich verschiedener Meinung ¨u ber die hierbei zu Grunde zu legenden Principien gewesen seien;Eisenstein sei bei der formellen Rechnung stehen geblieben,w ¨a hrend er selbst in der partiellen Di?erentialgleichung die wesentliche De?nition einer Function von einer complexen Ver ¨a nderlichen erkannt habe.Wahrscheinlich sind diese,f ¨u r seine ganze sp ¨

a tere Laufbahn maassgebenden Ideen zuerst in den Herbstferien 1847gr ¨u ndlich von ihm ver-arbeitet.

Von dem ¨u brigen Leben Riemann’s w ¨

a hrend seines zweij ¨a hrigen Aufent-haltes in Berlin ist nur wenig aus den Briefen zu ersehen.Die grossen po-litischen Erreignisse des Jahres 1848ergri?en auch ihm m ¨a chtig;er ware Augenzeige der M ¨a rz-Revolution und hatte als Mitglied des von den Stu-denten gebildeten Corps die Wache im k ¨o niglichen Schlosse vom 24.M ¨a rz Morgens 9Uhr bis zum folgenden Tage Mittags 1Uhr.

Ostern 1849kehrte Riemann,nachdem er noch die Ankunft der Frank-furter Kaiser-Deputation in Berlin erlebt hatte,nach G ¨o ttingen zur ¨u ck.Er besuchte in den drei folgenden Semestern noch einige naturwissenschaftli-che und philosophische Vorlesungen,under anderen mit gr ¨o sstem Interesse die genialen Vorlesungen ¨u ber Experimental-Physik von Wilhelm Weber,an welchem er sich sp ¨a ter eng anschloss,und der ihm bis zu seinem Tode ein treuer Freund und Rathgeber gewesen ist.In dieser Zeit m ¨u ssen bei gleichzei-tiger Besch ¨a ftigung mit philosophischen Studien,welche sich namentlich auf Herbart richteten,die ersten Keime seine naturphilosophischen Ideen sich entwickelt haben;dies scheint wenigstens,soweit es sich nur um das Stre-ben nach einer einheitlichen Naturau?assung handelt,aus einer Stelle eines Aufsatzes ”Ueber Umfang,Anordnung und Methode des naturwissenschaft-lichen Unterrichts auf Gymnasien “hervorzugehen,den er im November 1850als Mitglied des p ¨a dagogischen Seminars verfasste,und in welchem er sagt:”So z.B.l ¨a sst sich eine vollkommen in sich abgeschlossene mathematische Theorie zusammenstellen,welche von den f ¨u r die einzelnen Punkte geltenden Elementargesetzen bis zu den Vorg ¨a ngen in dem uns wirklich gegebenen con-

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tinuirlich erf ¨u llten Raume fortschreitet,ohne zu scheiden,ob es sich um die Schwerkraft,oder die Electricit ¨a t,oder die Magnetismus,oder das Gleichge-wicht der W ¨a rme handelt.“Im Herbst 1850trat er auch in das kurz vorher gegr ¨u ndete mathematisch-physikalische Seminar ein,welches von den Profes-soren Weber,Ulrich,Stern und Listing geleitet wurde,und betheiligte sich namentlich an den physikalischen experimentellen Uebungen,obgleich er da-durch von seiner Hauptaufgabe,der Ausarbeitung der Doctordissertation,oft abgezogen wurde.Theils diesem Umstande,theils aber auch der fast ¨a ngst-lichen Sorgfalt,welche Riemann auf die Ausarbeitung seiner f ¨u r den Druck bestimmten Schriften verwendete,und die ihn auch sp ¨a ter bei der Ver ¨o f-fentlichung seiner Arbeiten wesentlich gehemmt hat,wird es zuzuschreiben sein,dass er seine Abhandlung ”Grundlagen f ¨u r eine allgemeine Theorie der Functionen einer ver ¨a nderlichen complexen Gr ¨o sse “erst im November des fol-genden Jahres 1851der philosophischen Facult ¨a t einreichen konnte.Dieselbe fand eine sehr anerkennende Beurtheilung von Gauss,welcher Riemann bei dessen Besuch mittheilte,dass er seit Jahren eine Schrift vorbereite,welche denselben Gegenstand behandele,sich aber freilich nicht darauf beschr ¨a nke.Das Examen war am Mittwoch den 3.December,die ¨o ?entliche Disputati-on und Doctor-Promotion am Dienstag den 16.December.An seinen Vater schreibt er:”Durch meine jetzt vollendete Dissertation glaube ich meine Aus-sichten bedeutend verbessert zu haben;auch ho?e ich,dass ich mit der Zeit ?iessender und rascher schreiben lerne,namentlich wenn ich mehr Umgang suche und auch erst Gelegenheit habe,Vortr ¨a ge zu halten;ich habe daher jetzt guten Muth.“Zugleich entschuldigt er sich in R ¨u cksicht auf die Kosten,die er dem Vater verursacht,dass er sich nicht eifriger um die durch Gold-schmidt’s Tod erledigte Observatorstelle and der Sternwarte bem ¨u ht habe 1,und theilt mit,dass seiner Habilitation als Privatdocent nichts im Wege ste-he,sobald er die Habilitationsschrift fertig habe.Es scheint schon fr ¨u h seine Absicht gewesen zu sein,zum Gegenstande derselben die Theorie die trigo-nometrischen Reihen zu w ¨a hlen,allein es vegehen bis zu seiner Habilitation doch wieder zwei und ein halbes Jahr.

In den Herbstferien 1852hielt sich Lejeune Dirichlet,dem er noch von Berlin her wohl bekannt war,eine Zeit lang in G ¨o ttingen auf,und Riemann,der eben von Quickborn dorthin zur ¨u ckgekehrt war,hatte das Gl ¨u ck,ihn fast t ¨a glich zu sehen.Gleich bei seinem ersten Besuche in der Krone,wo Dirichlet

wohnte,und am folgenden Tage in einer Mittagsgesellschaft bei Sartorius von Waltershausen,in welcher auch die Professoren Dove aus Berlin und Listing gegenw ¨a rtig waren,fragte er Dirichlet,den er n ¨a chst Gauss als den gr ¨o ssten damals lebendigen Mathematiker anerkannte,um Rath wegen seiner Arbeit.”Am andern Morgen—schreibt Riemann an seinen Vater—war Dirichlet etwa zwei Stunden bei mir;er gab mir die Notizen,die ich zu meiner Habilitati-onschrift bedurfte,so vollst ¨a ndig,dass mir die Arbeit dadurch wesentlich erleichtert ist;ich h ¨a tte sonst auf der Bibliothek nach manchen Sachen lan-ge suchen k ¨o nnen.Auch meine Dissertation ging er mit mir durch und war ¨u berhaupt ¨

a usserst freundlich gegen mich,wie ich es bei dem grossen Ab-stande zwischen mir und ihm kaum erwarten durfte.Ich ho?e,er wird mich auch sp ¨a ter nicht vergessen.“Einige Tage darauf traf auch Wilhelm Weber von der Wiesbadener Naturforscher-Versammlung wieder in G ¨o ttingen ein;es wurde in gr ¨o sserer Gesellschaft ein sehr lohnender Aus?ug nach dem ei-nige Studenten entfernten Hohen Hagen gemacht,und am folgenden Tage trafen Dirichlet und Riemann abermals im Weber’schen Hause zusammen.Solche pers ¨o nliche Anregung war im h ¨o chsten Grade wohlthuend f ¨u r Rie-mann,und er schreibt selbst hier ¨u ber an seinen Vater:”Du siehst,dass ich hier im Ganzen noch nicht sehr h ¨a uslich gelebt habe;aber ich bin daf ¨u r des Morgens desto ?eissiger bei der Arbeit gewesen,und ?nde,dass ich so weiter gekommen bin,als wenn ich den ganzen Tag hinter meinen B ¨u chern sitze.“In jenen Tagen schreibt er auch von seiner Habilitation und von den An-fange seiner Vorlesungen,wie von unmittelbar bevorstehenden Dingen,und er w ¨u rde gewiss auch viel rascher in seiner ¨

a usserlichen Laufbahn fortgeschrit-ten sein,wenen ihm ¨o fter eine solche treibende Anregung zu Theil geworden w ¨a re.O?enbar f ¨a llt in den Anfang des Jahres 1853eine fast ausschliessliche Besch ¨a ftigung mit Naturphilosophie;seine neuen Gedanken gewinnen eine feste Gestalt,auf die er nach allen Unterbrechungen stets wieder zur ¨u ckge-kommen ist.Endlich ist auch die Habilitationsschrift fertig,und er schreibt an seinen j ¨u ngeren Bruder Wilhelm am 28.December 1853:”Mit meinen Arbeiten steht es jetzt so ziemlich;ich habe Anfangs December meine Ha-bilitationsschrift 2abgeliefert und musste dabei drei Themata zur Probevor-lesung vorschlagen,von denen dann die Facult ¨a t eines w ¨a hlt.Die beiden ersten hatte ich fertig und ho?te,dass man eins davon nehmen w ¨u rde;Gauss aber hatte das dritte 3gew ¨a hlt,und so bin ich nun wieder etwas in der Klem-me,da ich dies noch ausarbeiten muss.Meine andere Untersuchung ¨u ber den Zusammenhang zwischen Electricit ¨a t,Galvanismus,Licht und Schwere hatte ich gleich nach Beendigung meiner Habilitationsschrift wieder aufgenommen

und bin mit ihr so weit gekommen,dass ich sie in dieser Form unbedenklich ver ¨o ?entlichen kann.Es ist mir dabei aber zugleich immer gewisser geworden,dass Gauss seit mehreren Jahren auch daran arbeitet,und einigen Freunden,u.A.Weber,die Sache unter dem Siegel der Verschwiegenheit mitgetheilt hat,—Die kann ich dies wohl schreiben,ohne dass es mir als Anmaassung ausgelegt wird—ich ho?e,dass es nun f ¨u r mich noch nicht zu sp ¨a t ist und es anerkannt werden wird,dass ich die Sachen vollkommen selbst ¨a ndig gefunden habe.“

Um diese Zeit wurde Riemann im mathematisch-physikalischen Seminar Assistent von W.Weber und hatte als solcher die Uebungen der Neueintreten-den zu leiten,auch einige Vortr ¨a ge zu halten.Ueber den weiteren Fortgang siner Arbeiten schreibt er am 26.Juni 1854aus Quickborn seinem Bruder:”Um Weihnachten habe ich Dir von G ¨o ttingen aus,wie ich glaube,geschrie-ben,dass ich meine Hablitationsschrift Anfang December vollendet und an den Decan abgegeben h ¨a tte,sowie auch,dass ich bald darauf mich wieder mit meiner Untersuchung ¨u ber den Zusammenhang der physikalishen Grund-gesetze besch ¨a ftigte und mich so darin vertiefte,dass ich,als mir das Thema zur Probevorlesung beim Colloquium gestellt war,nicht gleich wieder davon loskommen konnte.Ich ward nun bald darauf krank,theils wohl in Folge zu vielen Gr ¨u belns,theils in Folge des vielen Stubensitzens bei dem Schlechten Wetter;es stellte sich mein altes Uebel wieder mit grosser Hartn ¨a ckigkeit ein und ich kam dabei mit meinen Arbeiten nicht vom Fleck.Erst nach mehreren Wochen,als das Wetter besser wurde und ich wieder mehr Umgang suchte,given es mit meiner Gesundheit besser.F ¨u r den Sommer habe ich nun eine Gartenwohnung gemiethet und habe seitdem gottlob ¨u ber meine Gesundheit nicht zu klagen gehabt.Nachdem ich etwa vierzehn Tage nach Ostern mit einer andern Arbeit,die ich nicht gut vermeiden konnte,fertig geworden war,ging ich nun eifrig an die Ausarbeitung meiner Probevorlesung und wurde am P?ngsten damit fertig.Ich erreichte es indess nur mit vieler M ¨u he,das ich mein Colloquium gleich maschen konnte und nicht noch wieder unverrichte-ter Sache nach Quickborn abreisen musste.Gauss’s Gesundheitszustand ist n ¨a mlich in der letzten Zeit so schlimm geworden,dass man noch in diesem Jahre seinen Tod f ¨u rchtet und er sich zu schwach f ¨u hlte,mich zu examiniren.Er w ¨u nschte nun,dass ich,weil ich doch erst im n ¨

a chsten Semester lesen k ¨o nnte,wenigstens noch bis zum August auf seine Besserung warten m ¨o chte.Ich hatte mich schon in das Unvermeidliche gef ¨u gt.Da entschloss er sich pl ¨o tzlich auf mein wiederholtes Bitten ”um die Sache vom Halse los zu wer-den “,am Freitag nach P?ngsten Mittag das Colloquium auf den andern Tag um hal

b elf anzusetzen und so war ich am Sonnabend um eins gl ¨u cklich da-mit fertig.—Lass Dir nun noch in aller Eiler erz ¨a hlen,was es mit der andern Arbeit,die mich um Ostern besch ¨a ftigte,f ¨u r eine Bewandtniss hat.In den

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Osterferien war Kohlrausch—ein Sohn vom Oberschulrath und Vetter und Schwager von Schmalfuss—der jetzt Professor in Marburg ist,auf vierzehn Tage bei Weber zum Besuch,um mit ihm gemeinschaftlich eine experimentel-le Untersuchung¨u ber Electricit¨a t zu machen,da Weber zu dem einen Theil dieser Untersuchung,Kohlrausch zu dem anderen Theil derselben die Vor-arbeiten gemacht und die Apparate erdacht und construirt hatte.Ich nahm an ihren Experimenten Theil und lernte bei dieser Gelegenheit Kohlrausch kennen.Kohlrausch hatte nun einige Zeit vorher sehr genaue Messungen ¨u ber eine bis dahin unerforschte Erscheinung(den electrischen R¨u ckstand in der Leidener Flasche)gemacht und ver¨o?entlicht und ich hatte durch meine allgemeinen Untersuchungen¨u ber den Zusammenhang zwischen Electricit¨a t, Licht und Magnetismus die Erkl¨a rung davon gefunden.Ich sprach nun mit K. dar¨u ber und dies war die Veranlassung,dass ich die Theorie dieser Erschei-nung f¨u r ihn ausarbeitete und ihm zuschickte.Kohlrausch hat mir nun jetzt sehr freundlich geantwortet,mir angeboten,meine Arbeit an Poggendor?, den Herausgeber der Annalen der Physik und Chemie,in Berlin zum Druck zu schicken,und mich eingeladen,ihn in diesen Herbstferien zu besuchen, um die Sache weiter zu verfolgen.Mir ist diese Sache deshalb wichtig,weil es das erste Mal ist,wo ich meine Arbeiten auf eine vorher noch nicht bekannte Erscheinung anwenden konnte,und ich ho?e,dass die Ver¨o?entlichung dieser Arbeit dazu beitragen wird,meiner gr¨o sseren Arbeit eine g¨u nstige Aufnahme zu verscha?en.Hier in Quickborn werde ich mich nun wohl theils mit dem Druck dieser Arbeit,da mir die Correcturbogen wahrscheinlich zugeschickt werden,theils mit des Ausarbeitung einer Vorlesung f¨u r n¨a chstes Semester besch¨a ftigen m¨u ssen.“

Zu dem ersten Theile des Briefes ist noch zu bemerken,dass Riemann die Ausarbeitung seiner Probevorlesung¨u ber die Hypothesen der Geometrie sich durch sein Streben,allen,auch den nicht mathematisch gebildeten Mitglie-dern der Facult¨a t m¨o glichst verst¨a ndlich zu bleiben,wesentlich erschwert hat, die Abhandlung ist aber hierdurch in der That zu einem bewunderungsw¨u r-digen Meisterst¨u ck auch in der Darstellung geworden,indem sie ohne Mitt-heilung der analytischen Untersuchung den Gang derselben so genau angiebt, dass sie nach diesen Vorschriften vollst¨a ndig hergestellt werden kann.Gauss hatte gegen das¨u bliche Herkommen von den drei vorgeschlagenen Thematen nicht das erste,sondern das dritte gew¨a hlt,weil er begierig war zu h¨o ren,wie ein so schwieriger Gegenstand von einem so jungen Manne behandelt werden w¨u rde;nun setzte ihn die Vorlesung,welche alle seine Erwartungen¨u bertraf, in das gr¨o sste Erstaunen,und auf dem R¨u ckwege aus der Facult¨a ts-Sitzung sprach er sich gegen Wilhelm Weber mit h¨o chster Anerkennung und mit ei-ner bei ihm seltenen Erregung¨u ber die Tiefe der von Riemann vorgetragenen Gedanken aus.

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Nach einem l ¨a ngeren Anfenthalte in Quickborn kehrte Riemann im Sep-tember nach G ¨o ttingen zur ¨u ck,um an der Naturforscher-Versammlung Theil zu nehmen;auf Weber’s und Stern’s Au?orderung entschloss er sich,in der mathematisch-physikalisch-astronomischen Section einen Vortrag ¨u ber die Verbreitung der Electricit ¨a t in Nichtleitern zu halten.Er schreibt dar ¨u ber an seinen Vater:”Mein Vortrag kam am Donnerstag an die Reihe,und da f ¨u r diese Sitzung unserer Section kein anderer angek ¨u ndigt war,so arbeitete ich die Sache noch den Abend vorher etwas weiter aus,um die gew ¨o hnli-che Zeit der Sitzunen einigermaassen auszuf ¨u llen.Ich hatte anfangs nur das Gesetz,welches ich mittheilen wollte,kurz angeben wollen,wandte es aber nun noch auf mehrere Erscheinungen an und zeigte die Uebereinstimmung mit der Erfahrung.Mein Vortrag war nun freilich in diesem letzten Theile weniger ?iessend,aber ich glaube doch,dass der Eindruck des Ganzen durch Hinzuf ¨u gung desselben gewonnen hat;ich sprach ungef ¨

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ziemlich gelegt und ich gew¨o hne mich daran,mehr and die Zuh¨o rer,als an mich dabei zu denken,und in ihren Mienen zu lesen,ob ich vorw¨a rts gehen oder die Sache noch weiter auseinander setzen muss.“Es ist indessen keinem Zweifel unterworfen,dass der m¨u ndliche Vortrag ihm in den ersten Jahren seiner akademischen Lehrth¨a tigkeit grosse Schwierigkeiten verursachte.Seine gl¨a nzende Denkkraft und vorahnende Phantasie liess ihn meist,was beson-ders bei zuf¨a lligen m¨u ndlichen Unterhaltungen¨u ber wissenschaftliche Gegen-st¨a nde zum Vorschein kam,sehr grosse Schritte nehmen,denen man nicht so leicht folgen konnte,und wenn man ihn zu einer n¨a heren Er¨o rterung einiger Zwischenglieder seiner Schl¨u sse au?orderte,so konnte er stutzig werden und es verursachte ihm einige M¨u he,sich in den langsameren Gedankengang des Anderen zu f¨u gen und dessen Zweifel rasch zu beseitigen.So hat ihn auch bei seinen Vorlesungen die Beobachtung der Mienen seiner Zuh¨o rer,von der er oben schreibt,oft emp?ndlich gest¨o rt,wenn er,bisweilen ganz gegen sein Er-warten,sich gen¨o thigt glaubte,einen f¨u r ihn fast selbstverst¨a ndlichen Punkt noch besonders zu beweisen.Dies hat sich aber nach l¨a ngerer Uebung ver-loren,und die verh¨a ltnissm¨a ssig grosse Zahl seiner Sch¨u ler ist nicht blos der Anziehungskraft seines durch die tiefsinningsten Werke ber¨u hmt gewordenen Namens,sondern auch seinem Vortrage zuzuschreiben,auf den er sich stets sehr sorgf¨a ltig vorbereitete,und durch welchen es ihm gelang,seine Zuh¨o rer ¨u ber die grossen Schwierigkeiten hinwegzuf¨u hren,die sich dem Eindringen in die von ihm gescha?enen neuen Principien entgegenstellen.

Am23.Februar1855starb Gauss,und bald darauf wurde Lejeune Di-richlet von Berlin nach G¨o ttingen berufen.Bei dieser Gelegenheit wurde von mehreren Seiten,aber vergeblich dahin gewirkt,dass Riemann zum aus-serordentlichen Professor ernannt werden m¨o chte;erreicht wurde nur,dass ihm eine Remuneration von j¨a hrlich200Thaler von der Regierung ausgesetzt wurde;so gering diese Summe war,eine so wichtige Erleichterung gew¨a hrte sie Riemann,der in dieser und der n¨a chsten Zeit wohl oft mit d¨u sterem Blick in die Zukunft schaute.Es begann eine Reihe von traurigen Jahren,in denen ihn ein schmerzlicher Schlag nach dem anderen traf.Noch im Jahre1855 verlor er seinen Vater und eine Schwester,Clara;die alte,so innig geliebte Heimath in Quickborn wurde verlassen,seine drei Schwestern zogen zu dem Bruder Wilhelm nach Bremen,der dort Postsecretair war und von jetzt an die Sorge f¨u r die Erhaltung der Familie¨u bernahm.

Riemann wandte sich jetzt mit erneutem Eifer wieder seinen schon in den Jahren1851und1852begonnenen Untersuchungen¨u ber die Theorie der Abel’schen Functionen zu und machte dieselbe zum ersten Male von Michae-lis1855bis Michaelis1856zum Gegenstande seiner Vorlesungen,an denen drei Zuh¨o rer,Schering,Bjerknes und sein College Dedekind Theil nahmen. Im Sommer1856wurde er zum Assessor der mathematischen Classe der

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G ¨o ttinger Gesellschaft der Wissenschaften ernannt;als solcher ¨u berreichte er am 2.November seine Abhandlung ¨u ber die Gauss’sche Reihe und schrieb an demselben Tage seinem Bruder:”Auch ho?e ich,dass meine Arbeiten mir Fr ¨u chte tragen sollen.Meine Abhandlung ist,wie ich Dir schon schrieb,jetzt zum Druck fertig,und vielleicht wird sie die Societ ¨a t in ihren Schrif-ten drucken lassen,allerdings eine grosse Ehre,da diese in den letzten 50Jahren nur mathematische Abhandlungen von Gauss enthalten haben.Die mathematische Section der Societ ¨a t,bestehend aus Weber,Ulrich und Dirich-let wird wenigstens nach Weber’s Aeusserungen wohl auf den Druck meiner Abhandlung antragen.—Mit meinen Vorlesungen,d.h.mit dem Besuch der-selben,bin ich ziemlich zufrieden,besonders bei der geringen Zahl der neu angekommenen Studenten.Es sind gar keine Mathematiker unter diesen und das ist auch wohl der Grund,dass Dedekind und Westphal ihre Privatvorle-sungen nicht zu Stande bekommen haben.Die Anzahl meiner Zuh ¨o rer betrug nun an den vier Tagen,an denen ich gelesen habe,erst drei,dann vier und die letzten beiden Male f ¨u nf;doch war hierunter wohl ein Hospitant.Sehr lieb ist es mir,das ich diesmal auch einige Zuh ¨o rer aus den ersten Semestern habe,nicht wie sonst bloss aus dem sechsten und sp ¨a teren Semestern,weil ich dies als ein Zeichen betrachte,dass meine Vorlesungen leichter verst ¨a ndlich werden.Bei alledem kann ich noch nicht behaupten,dass meine Vorlesungen zu Stande gekommen sind;denn es hat sich noch Niemand bei mir gemeldet und ist also immer noch m ¨o glich,dass meine Herren Zuh ¨o rer mich in Stiche lassen.—Meine freie Zeit werde ich von jetzt an ganz auf die Arbeit ¨u ber die Abel’schen Functionen,von der ich Dir erz ¨a hlt habe,verwenden.Kurz vor meiner Wiederankunft hier in G ¨o ttingen ist auch der Hauptredacteur des mathematischen Journals,der Dr.Borchardt aus Berlin,hier gewesen und hat mir durch Dirichlet und Dedekind die Au?orderung zugehen lassen,ihm doch so bald wie m ¨o glich eine Darstellung meiner Untersuchungen ¨u ber die Abel’schen Functionen,sie sei so roh wie sie wolle,zu schicken.Weierstrass ist jetzt stark im Publiciren,doch enth ¨a lt das jetzt ver ¨o ?entlichte Heft,von dem Scherk mir erz ¨a hlte,nur die ersten Vorbereitungen zu seiner Theorie.“In der That widmete er sich nun mit allen Kr ¨a ften der Ausarbeitung die-ses Werkes,so dass er die ersten drei kleineren Abhandlungen am 18.Mai,die vierte gr ¨o ssere am 2.Jul 1857im Manuscript nach Berlin abschicken konnte;allein durch die ¨u berm ¨a ssige Anstrengung hatte seine Gesundheit sehr gelit-ten,und er befand sich am Ende des Sommersemesters in einem Zustande geistiger Abspannung,der seine Stimmung in h ¨o chsten Grade verd ¨u sterte.Zur Erfrischung und St ¨a rkung seiner Gesundheit nahm er f ¨u r einige Wochen seinen Aufenthalt in Harzburg,wohin ihn sein Freund Ritter (damals Lehrer an dem Polytechnicum zu Hannover,jetzt Professor in Aachen)auf einige Tage begleitete,und wohin ihm sp ¨a ter sein College Dedekind folgte,mit dem

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er viele Spazierg ¨a nge und auch gr ¨o ssere Aus?¨u ge in dem Harz machte.Auf solchen Spazierg ¨a ngen erheiterte sich seine Stimmung,sein Zutrauen zu An-deren und zu sich selbst wuchs,sein harmlose Scherz und seine r ¨u ckhaltlose Unterhaltung ¨u ber wissenschaftliche Gegenst ¨

a nde machten ihn zu dem lie-bensw ¨u rdigsten und anregendsten Gesellschafter.In dieser Zeit wandten sich seine Gedanken wieder der Naturphilosophie zu,und eines Abends nach der R ¨u ckkehr von einem anstrengenden Wanderung gri?er zu Brewster’s Life of Newton,und sprach lange mit Bewunderung ¨u ber den Brief an Bentley,in welchem Newton selbst die Unm ¨o glichkeit unmittelbarer Fernwinkung be-hauptet.

Bald nach seiner R ¨u ckkehr nach G ¨o ttingen wurde er am 9.November 1857zum ausserordentlichen Professor in der philosophischen Facult ¨a t er-nannt,und seine Reumuneration von 200Thaler auf 300Thaler erh ¨o ht.Aber fast gleichzeitig ersch ¨u tterte ihn auf das Tiefste der Tod seines innig gelieb-ten Bruders Wilhelm;er ¨u bernimmt nun ganz die Sorge f ¨u r seine drei noch lebenden Schwestern und dringt inst ¨a ndig darauf,dass sie noch im Lau-fe des Winters zu ihm nach G ¨o ttingen ¨u bersiedeln;dies geschah auch im Anfang M ¨a rz 1858,aber erst nachdem ihnen die j ¨u ngste Schwester,Marie,noch durch den Tod entrissen war.Nach so vielen Schicksalsschl ¨a gen trug das Zusammenleben mit den Schwestern wesentlich zur Besserung seiner tief niedergedr ¨u ckten Gem ¨u thsstimmung bei,und die Anerkennung,welche von nun an,wenn auch langsam,seinen Werken auch in weiteren Kreisen zu Theil wurde,hob allm ¨a hlich sein gesunkenes Selbstvertrauen und liess ihn frischen Muth zu neuen Arbeiten ?nden.Schon vorher hatte er den sp ¨a ter viel bespro-chenen Aufsatz,”Ein Beitrag zur Electrodynamik “verfasst,¨u ber welchen er seiner Schwester Ida schreibt:”Meine Entdeckung ¨u ber den Zusammenhang zwischen Electricit ¨a t und Licht habe ich hier der K ¨o nigl.Societ ¨a t ¨u bergeben.Nach manchen Aeusserungen,die ich dar ¨u ber vernommen,muss ich schlies-sen,dass Gauss eine andere von der meinigen verschiedene Theorie dieses Zusammenhangs aufgestellt und seinen n ¨a chsten Bekannten mitgetheilt hat.Ich bin aber v ¨o llig ¨u berzeugt,dass die meinige die richtige ist und in ein paar Jahren allgemein als solche anerkannt werden wird.“Er hat bekanntlich diese Arbeit bald wieder zur ¨u ckgezogen und auch sp ¨

a ter nicht ver ¨o ?entlicht,wahrscheinlich weil er selbst mit der in ihr enthaltenen Ableitung nicht mehr zufrieden war.

In den Herbstferien 1858machte er die Bekanntschaft der italienischen Mathematiker Brioschi,Betti und Casorati,welche damals eine Reise durch Deutschland machten und auch einige Tage in G ¨o ttingen verweilten;diese Verbindung sollte sp ¨a ter in Italien wieder angekn ¨u pft werden.

In diese Zeit ?el die Erkrankung Dirichlet’s welcher seinen langen Leiden am 5.Mai 1859erlag.Er hatte von Anfang and das lebhafteste pers ¨o nli-

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che Interesse f¨u r Riemann empfunden und bei allen Gelegenheiten beth¨a tigt, wo er auf eine Verbesserung der¨a usserlichen Verh¨a ltnisse Riemann’s hin-wirken konnte.Inzwischen war des Letzteren wissenschaftliche Bedeutung so allgemein anerkannt,dass die Regierung nach Dirichlet’s Tode von der Berufung eines ausw¨a rtigen Mathematikers absah;Ostern1859wurde f¨u r Riemann eine Wohnung in der Sternwarte einger¨a umt,am30.Juli wurde er zum ordentlichen Professor ernannt und im December einstimmig zum ordentlichen Mitgliede der Gesellschaft der Wissenschaften erw¨a hlt.Schon vorher,am11.August,hatte die Berliner Akademie der Wissenschaften ihn zum correspondirenden Mitgliede in der physicalisch-mathematischen Classe ernannt,und dies veranlasste ihn,im September in Dedekind’s Gesellschaft nach Berlin zu reisen,wo er von den dortigen Gelehrten,Kummer,Borchardt, Kronecker,Weierstrass mit Auszeichnung und grosser Herzlichkeit aufgenom-men wurde.Eine Folge seiner Ernennung,welcher sp¨a ter,im M¨a rz1866,die Wahl zum ausw¨a rtigen Mitgliede gefolgt ist,4und dieses Besuchs war es,dass er im October seine Abhandlung¨u ber die H¨a u?gkeit der Primzahlen der Ber-liner Akademie einreichte un einen,nach seinem Tode ver¨o?entlichten Brief ¨u ber die vielfach periodischen Functionen an Weierstrass richtete.

Einen Monat sp¨a ter¨u bergab er der G¨o ttinger Gesellschaft der Wissen-schaften seine Abhandlung¨u ber die Fortp?anzung ebener Luftwellen von endlicher Schwingingsweite.

In den Osterferien1860machte er eine Reise nach Paris,wo er sich vom 26.M¨a rz ab einen Monat aufhielt;leider war das Wetter sehr rauh und un-freundlich,noch in der letzten Woche gab es mehrere Tage hinter einander Schnee und Hagel,so dass die Besichtigung von Merkw¨u rdigkeiten oft ge-radezu unm¨o glich war.Dagegen war er sehr zufrieden mit der freundlichen Aufnahme von Seiten der Pariser Gelehrten Serret,Bertrand,Hermite,Pui-seux und Briot,bei welchem er einen Tag auf dem Lande in Chatenay mit Bouquet sehr angenehm verlebte.

In demselben Jahre vollendete er seine Abhandlung¨u ber die Bewegung eines?¨u ssigen Ellipsoides und wendete sich der Bearbeitung der von der Pa-riser Akademie gestellten Preisaufgabe¨u ber die Theorie der W¨a rmeleitung zu,f¨u r welche er durch seine Untersuchungen¨u ber die Hypothesen der Geo-metrie schon fr¨u her die Grundlagen gewonnen hatte.Im Juni1861sandte er

Et his prin-seine in lateinischer Sprache abgefasste L¨o sung unter dem Motto

cipiis via sternitur ad majora“ein;dieselbe errang indessen den Preis nicht, weil es ihm an Zeit gefehlt hatte,die zur Durchf¨u hrung n¨o thige Rechnung vollst¨a ndig mitzutheilen.

Das in den letzten Jahren ungetr¨u bte,gl¨u ckliche Leben,dessen Riemann sich erfreuen durfte,erreichte seinen H¨o hepunkt,als er sich am3.Juni1862 mit Fr¨a ulein Elise Koch aus K¨o rchow in Mecklenburg-Schwerin,einer Freun-din seiner Schwestern verheirathete;es war ihr beschieden,die bevorstehen-den Jahre des Leidens mit ihm zu theilen und durch unerm¨u dliche Liebe zu versch¨o nern.Schon im Juli desselben Jahres be?el ihn eine Brustfellentz¨u n-dung,von welcher er scheinbar zwar sich rasch erholte,welche aber doch den Keim zu einer Lungenkrankheit zur¨u ckliess,die sein fr¨u hes Ende herbeif¨u h-ren sollte.Als ihm von den Aerzten ein l¨a ngerer Aufenthalt im S¨u den zur Heilung angerathen war,gelang es der dringenden Verwendung von Wilhelm Weber und Sartorius von Waltershausen,von der Regierung nicht nur den er-forderlichen Urlaub,sondern auch eine ausreichende Unterst¨u tzung zu einer Reise nach Italien f¨u r ihn auszuwirken,welche er im November1862antrat. Durch Sartorius von Waltershausen auf das W¨a rmste empfohlen,fand er das freundlichste Entgegenkommen in der Familie des Consuls J¨a ger in Messina, auf deren Villa in der Vorstadt Gazzi er den Winter verlebte.Sein Be?nden besserte sich rasch,und er konnte Aus?¨u ge nach Taormina,Catania und Sy-racus unternehmen.Auf der R¨u ckreise,welche er am19.M¨a rz1863antrat, besuchte er Palermo,Neapel,Rom,Livorno,Pisa,Florenz,Bologna,Mai-land;bei l¨a ngerem Aufenthalte in diesen St¨a dten,deren Kunstsch¨a tze und Alterth¨u mer sein gr¨o sstes Interesse erweckten,machte er zugleich Bekannt-schaft mit den bedeutendsten Gelehrten Italiens,und namentlich schloss er sich mit inniger Freundschaft an Professor Enrico Betti in Pisa an,der er schon im Jahre1858in G¨o ttingen kennen gelernt hatte.Ueberhaupt bildet der mehrj¨a hrige Aufenthalt Riemann’s in Italien,so traurig die n¨a chste Ver-anlassung desselben auch war,einen wahren Lichtpunkt in seinem Leben; nicht allein,dass ihn das Schauen aller Herrlichkeit dieses enz¨u ckenden Lan-des,von Natur und Kunst,unendlich begl¨u ckte,erf¨u hlte sich dort auch als freier Mensch dem Menschen gegen¨u ber,ohne alle die hemmenden R¨u cksich-ten,die er in G¨o ttingen auf Schritt und Tritt nehmen zu m¨u ssen meinte;dies Alles und der wohlth¨a tige Ein?uss des herrlichen Klimas auf seine Gesund-heit stimmte ihn oft recht froh und heiter und liess ihn dort viele gl¨u ckliche Tage verleben.

Mit den besten Ho?nungen verliess er das ihm so lieb gewordene Italien, allein er zog sich auf dem Uebergange¨u ber den Spl¨u gen,wo er unvorsichtiger Weise eine Strecke lang zu Fuss durch den Schnee ging,eine heftige Erk¨a l-tung zu,und nach der Ankunft in G¨o ttingen,welche am17.Juni erfolgte,war sein Be?nden fortw¨a hrend so schlecht,dass er sich sehr bald zu einer zweiten

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Reise nach Italien entschliessen musste,welche er am21.August antrat.Er wandte sich zun¨a chst nach Meran,Venedig,Florenz,dann nach Pisa,wo ihm am22.December1863eine Tochter geboren wurde,welche nach seiner¨a lte-ren Schwester der Namen Ida erhielt.Ungl¨u cklicher Weise war der Winter so kalt,dass der Arno zufror.Im Mai1864bezog er eine Villa vor Pisa;hier verlor er Ende August seine j¨u ngere Schwester,Helene;er selbst wurde von der Gelbsucht befallen,welche auch eine Verschlimmerung eines Brustleidens zur Folge hatte.Eine Berufung nach Pisa an Stelle von Professor Mosotti, welche schon im Jahre1863durch Vermittlung von Betti an ihn ergangen war,hatte er theils auf den Rath seiner G¨o ttinger Freunde,haupts¨a chlich aber wohl aus dem Grunde abgelehnt,weil er die mit der ihm angetragenen Stellung verbundenen P?ichten bei seinem angegri?enen Gesundheitszustan-de nicht vollst¨a ndig erf¨u llen zu k¨o nnen bef¨u rchtete und deshalb sich ausser Stande f¨u hlte,die Annahme des Rufes vor sich zu verantworten.Dasselbe P?ichtgef¨u hl erweckte den dringenden Wunsch in him,nach G¨o ttingen zu-r¨u ckzukehren und sich wieder seinem Lehramte zu widmen,und nur auf die ernsten Vorstellungen der Aerzte und seiner Freunde entschloss er sich da-zu,auch den folgenden Winter in Italien zuzubringen,welchen er zu Pisa in angenehmem geselligen und wissenschaftlichen Verkehr mit den dortigen Ge-lehrten Betti,Felici,Novi,Villari,Tassinari,Beltrami verlebte;in jener Zeit arbeitete er auch an seiner Abhandlung¨u ber das Verschwinden der Theta-Functionen.Den Mai und Juni1865brachte er bei schlechtem Be?nden in Livorno,den Juli und August am Lago Maggiore,den September in Pegli bei Genua zu,wo durch ein gastrisches Fieber eine bedeutende Verschlimmerung seines Zustandes eintrat.

Unter diesen Umst¨a nden konnte Riemann seinem immer lebhafteren Wu-nsche,nach G¨o ttingen zur¨u ckzukehren,nicht l¨a nger widerstehen;er langte am3.October an und verlebte daselbst den Winter bei ertr¨a glich gutem Be-?nden,welches ihm meistens gestattete,einige Stunden t¨a glich zu arbeiten. Er vollendete die Abhandlung¨u ber das Verschwinden der Theta-Functionen und¨u bertrug seinem fr¨u heren Sch¨u ler Hattendor?die Ausarbeitung der Ab-handlung¨u ber die Minimal?¨a chen;er sprach auch¨o fter den Wunsch aus,vor seinem Ende noch¨u ber einige seiner unvollendeten Arbeiten mit Dedekind zu sprechen,f¨u hlte sich aber stets zu schwach und angegri?en,um denselben zu einem Besuche in G¨o ttingen zu veranlassen.In den letzten Monaten be-sch¨a ftigte er sich mit der Ausarbeitung einer Abhandlung¨u ber die Mechanik des Ohres,welche leider nicht vollendet und nur als Fragment nach seinem Tode von Henle und Schering herausgegeben ist.

Die Vollendung dieser Abhandlung sowie einiger anderen Arbeiten lag ihm sehr am Herzen,und er ho?te durch einen Aufenthalt von einigen Monaten am Lago Maggiore,wohin ihn ausserdem grosse Sehnsucht nach dem ihm so

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lieb gewordenen Lande trieb,die dazu erforderlichen Kr ¨a fte noch sammeln zu k ¨o nnen.So entschloss er sich am 15.Juni 1866,in den ersten Kriegs-tagen,zu seiner dritten Reise nach Italien;dieselbe wurde schon in Cassel unterbrochen,weil die Eisenbahn zerst ¨o rt war,doch gelangte er mit Fuhr-werk gl ¨u cklich bis Giessen,von wo die Weiterreise keine fernenen Hinternisse fand.Am 28.Juni traf er am Lago Maggiore ein,wo er in der Villa Pisoni in Selasca bei Intra wohnte.Rasch nahmen seine Kr ¨a fte ab,und er selbst f ¨u hl-te mit voller Klarheit sein Ende herannahen;aber noch am Tage vor seinem Tode arbeitete er,unter einem Feigenbaum ruhend und von grosser Freude ¨u ber den Anblick der herrlichen Landschaft erf ¨u llt,an seinem letzten,leider unvollendet gebliebenen Werke.Sein Ende war ein sehr sanftes,ohne Kampf und Todesschauer;es schien,als ob er mit Interesse dem Scheiden der Seele vom K ¨o rper folgte;seine Gattin musste ihm Brod und Wein reichen,er trug ihr Gr ¨u sse an die Leben daheim auf und sagte ihr:k ¨u sse unser Kind.Sie betete das Vater Unser mit ihm,er konnte nicht mehr sprechen;bei den Wor-ten ”Vergieb uns unsere Schuld “richtete er gl ¨a ubig das Auge nach oben;sie f ¨u hlte seine Hand in der ihrigen k ¨a lter werden,und nach einigen Athemz ¨u gen hatter sein reines,edeles Herz zu schlagen aufgeh ¨o rt.Der fromme Sinn,der im Vaterhaus gep?anzt war,blieb ihm durch das ganze Leben,und er diente,wenn auch nicht in derselben Form,treu seinem Gott;mit der gr ¨o ssten Piet ¨a t vermied er,Andere in ihrem Glauben zu st ¨o ren;die t ¨a gliche Selbstpr ¨u fung vor dem Angesichte Gottes war,nach seinem eigenen Ausspruche,f ¨u r ihn eine Hauptsache in der Religion.

Er ruht auf dem Kirchhofe zu Biganzolo,wohin Selasca eingepfarrt ist.Sein Grabstein tr ¨a gt die Inschrift:

Hir ruhet in Gott

GEORG FRIEDRICH BERNHARD RIEMANN,Prof.zu G ¨o ttingen,geb.in Breselenz 17.Sept.1826,gest.in Selasca 20.Juni 1866.

Denen die Gott lieben m ¨u ssen alle Dinge zum Besten dienen.5

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